Es gibt ja so die Schubladen: Corona-Leugner, Corona-Verharmloser, Corona-Skeptiker (vermutlich eine Art "Verharmloser")... Auch bei euch im Podcast werden diese Schubladen gerne gebraucht, meistens die erste. Bhakdi und Wodarg wurden in der aktuellen Sendung als "Verharmloser" bezeichnet.
Mir fehlt da noch eine Kategorie: Die Corona-Realisten. Das sind diejenigen, die sich die verfügbaren Daten ganz genau anschauen und danach urteilen. In der Regel lehnen sie Modellrechnungen ab. Streeck würde ich bei den Realisten einsortieren, und natürlich mich selber...
Schauen wir mal zurück in den März/April 2020. Es muss für einen alten Hasen der Mikrobiologie wie Bhakdi eine Überraschung gewesen sein, dass die Forschung plötzlich alles bisher gesammelte Wissen über Bord warf und bei diesem "neuartigen Coronavirus" (novel corona virus), welches sie kurz zuvor noch als grippeähnlich eingestuft hatte (*), offenbar den Bedarf sah, das epidemiologische Rad neu zu erfinden.
Beispiel Kreuzimmunität: Der Begriff beschreibt eine Art der Immunität, die sich aus der Verwandtschaft der Erreger ergibt. Für das „novel corona virus“ wurde einfach angenommen, dass es eine solche Immunität, resultierend aus früheren Infektionen mit endemischen Coronaviren, nicht gäbe.
"Dieses neue Virus ist ja erst mal gar kein Influenzavirus. Aber es ist auch eben neu. Und das ist das Entscheidende. Wir haben hier nicht diese Hintergrundimmunität, die uns schützt."
Aus dieser Annahme fehlender Immunität ergaben sich dann in Modellrechnungen vergleichsweise hohe Fallzahlen und Sterblichkeitsraten. Erst später wurde diese Ansicht revidiert, nachdem in aufwändigen Laborversuchen nachgewiesen worden war, dass T-Zellen von Patienten, die Kontakt mit anderen Coronaviren gehabt hatten, auch auf SARS-CoV-2 ansprachen und Kreuzimmunität somit doch auch in diesem Fall existiert.
[Im Kontext einer Studie zu den T-Zell-Immunität]:
„Wir müssen auch Erklärungen finden, warum diese Fälle so mild sind. Eine Erklärung könnte sein, die milden Fälle haben vielleicht am Anfang der Infektion weniger Virus abgekriegt. Oder die sind insgesamt auch in einer besseren Konstitution. Das kann man sich alles zurechtlegen. Vielleicht stimmt das auch alles.
Aber dieser Einfluss, den wir jetzt besprechen, der kommt wahrscheinlich noch dazu: Dass eine gewisse Hintergrundimmunität in der Bevölkerung besteht.“
Nur wenige öffentlich präsente Experten, darunter Bhagdi, Wodarg oder auch der Schweitzer Beda M. Stadler, gingen von Anfang an davon aus, dass diese Immunität bereits bestehen würde. Entsprechend weniger kritisch sahen sie die Lage – was ihnen dann als „Verharmlosung“ zum Vorwurf gemacht wurde.
Aber war es das wirklich, Verharmlosung? Oder nicht doch eher: Realismus? Wenn man sich die deutschen Sterbezahlen anschaut, dann muss man sagen: Wodargs Grippevergleich war realistisch. Die Übersterblichkeit in 2020 (mit Maßnahmen, schlecht wirkend bei der Risikogruppe der ganz Alten) war ungefähr so wie in 2018 (mit Grippeimpfung, offenbar genauso schlecht wirkend bei der Risikogruppe der ganz Alten).
Bereits im März deutete eine französische Studie das an: Dass eine Infektionmit SARS-CoV-2 nicht tödlicher sei als die mit einem herkömmlichen Coronavirus.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7102597/
Abstract
SARS-CoV-2, the novel coronavirus from China, is spreading around the world, causing a huge reaction despite its current low incidence outside China and the Far East. Four common coronaviruses are in current circulation and cause millions of cases worldwide. This article compares the incidence and mortality rates of these four common coronaviruses with those of SARS-CoV-2 in Organisation for Economic Co-operation and Development countries. It is concluded that the problem of SARS-CoV-2 is probably being overestimated, as 2.6 million people die of respiratory infections each year compared with less than 4000 deaths for SARS-CoV-2 at the time of writing.
Bhagdi wies auf diese Studie hin, im März 2020. Das Video ging viral, und er wurde damit offenbar krass missverstanden. Hans Jessen hat mich darauf gebracht mit dem Bhakdi-Bashing in seiner Sendung.
Ungerechtfertigtes Bhakdi-Bashing bei 16:50 und 38:55
Ich denke, man hat dem Bhakdi Unrecht getan. Wir hätten mehr auf ihn hören sollen. Auch auf den Wodarg. Beide haben auch Fehler gemacht, wer hat das nicht? Beide konnten nicht erklären, wie es zu dem Drama von Bergamo kam, aber wer konnte das schon? Dass der Erklärungsveruch "Das Virus ist besonders schlimm!" zu kurz griff und viele andere Aspekte außer Betracht ließ, das konnte man sich damals schon denken.
Außerdem waren beide geprägt durch frühere Erfahrungen, insbesondere mit der Schweinegrippe. Auch damals schon hat eine unheilige Allianz aus Forschung, Industrie und Medien versucht, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Die Mücke war dann in 2020 ein bisschen größer als in 2009, aber das konnte man so genau auch nicht gleich wissen.
Also: Wodarg und Bhagdi, raus aus der "Verharmloser"-Kiste. Zumindest mit dem Wissen von heute neu bewerten, was sie damals gesagt haben.
Daher mein Beitrag zu "alternative Medien": Bhagdis "offener Brief an Merkel" vom März 2020 im Videoformat. Jeder soll sich dabei überlegen, wie seine fünf Fragen mit dem Wissen von heute zu beantworten wären. Und was Bhakdi somit ist: Verharmloser oder Realist.
[Edit 28.02.2021: Neuer Link, der alte wurde von Youtube gelöscht]